Movie Review
Russia Today – DURAK
Written on Febuary 29 2015 by ELENA NESTERAK

In einem Rechtsstaat ist aufrichtiges Verhalten erstrebenswert. In Russland wird es missverstanden, belächelt, in den Dreck gezogen. Davon erzählt der neue Streifen von Yurij Bykow “Durak” (“Blödmann”). Wie auch seine vorherigen Filme (“Leben”, „Mayor“) ist es ein scharfes soziales Drama, in welchem ein Einzelner dem System zu trotzen versucht und dabei selbst zugrunde geht.

Der junge Regisseur dreht seine Filme fast im Alleingang. Bykow führ die Regie, schreibt selbst die Drehbücher, komponiert die Musik, macht den Schnitt und spielte sogar eine Hauptrolle („Mayor”, 2013). Am liebsten würde er auch für die Lichtverhältnisse sorgen, – erklärt Bykow im Dezember 2014 dem russischen TV-Kinomagazin „Kinopoisk“ („Filmsuche“). Der Grund dafür ist banal. In Russland eine zuverlässige Filmcrew aufzutreiben ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es wird einfach viel zu viel und viel zu oft gesoffen. Deshalb übernimmt Bykow so viele Aufgaben selbst.

Viel zu viel und viel zu oft wird logischerweise auch in „Durak“ gesoffen. Das ist vermutlich eines der wenigen Verbindungselemente, das die zwei weit von einander entfernten Kasten, die regierenden Apparatschiken und das Volk, zusammenschweisst. Gesoffen wird in einem heruntergekommenen Wohnheim, wo Geschrei und Gejohle, Drogenkonsum und Schlägereien an der Tagesordnung sind. Gesoffen was das Zeug hält wird auch im noblen Restaurant, in welchem die regierende Bürgermeisterin ihren Geburtstag feiert. Zwischen diesen beiden Welten versucht der junge Bursche namens Dima (Artiom Bystrov, Bester Schauspieler in Locarno 2014)) verzweifelt zu vermitteln.

Der Klempner, Bauingenieur-Student und Vater mit gesundem Menschenverstand und angeborenem Sinn für Gerechtigkeit hat per Zufall festgestellt, dass ein maroder Wohnkomplex, in welchem 820 Menschen daheim sind, bald einstürzen wird. So beginnt seine Odyssee durch die verschneite, nächtliche Stadt auf der Suche nach Beistand und Menschlichkeit. Doch rasch wird ihm klar, dass niemand bereit ist, das Richtige zu tun: den Notstand auszurufen und die Bewohner zu evakuieren. Die unermesslich korrupten Kleinstadtfürsten nehmen alles in Kauf (das Leben von 820 Menschen, Ermordung ihrer Kollegen), um an der Macht zu bleiben und weiter ungehindert abkassieren zu können.

Auch Dimas Familie ist nicht bereit, einer elementaren menschlichen Logik zu folgen. Für seine Mutter und seine Frau ist er ein Blödmann. Er soll sich besser um die eigene Familie und deren Wohlstand kümmern. Die Anderen sind fremd, und man kann den Systemsumpf nicht durchschauen, geschweige denn bekämpfen. Sogar die zukünftigen Opfer wollen lieber in ihren stinkenden Unterkünften sitzen und nichts gegen das eigene Elend unternehmen. Für sein Heldentum wird Dima auch von ihnen bestraft. Ursprünglich gab es eine zweite Version des Finales – mit einem Hoffnungsschimmer. Doch der Regisseur hat sich für den absoluten Abgrund entschieden. So wird das Porträt des für viele unbegreiflichen Landes noch schärfer, entsetzlicher und realer.

Gleichermassen speziell wie die Umstände, ist auch die Sprache im Film. Von dem mächtigen Sprachvermögen der weltweit verehrten russischen Poeten ist nicht viel übrig geblieben. Gesprochen wird wie gelebt – rissig, ruppig, rau. Und gewiss kommt kaum ein Satz ohne allgegenwärtigen Mat (das System der russischen Mütterflüche) aus. Im Mai 2014 wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet, welches das Fluchen im Kino, auf der Bühne und in der Literatur verbietet. Das Verbot wurde von den Kulturschaffenden als Verbannung des Realismus aufgenommen. Auch aus diesem Grund hat der dieses Jahr mir dem Film „Leviathan“ auf den Oskar nominierte Regisseur Andrey Zviaguintsev (Golden Globe-Gewinner) die Befürchtung, dass sein Film in der Heimat nie aufgeführt werden wird. Der offizielle Start sollte im Februar 2015 erfolgen. Die Patriarchen der orthodoxen Kirche haben beim Kulturministerium eine Petition mit der Bitte um ein Verbot des Filmverleihs in Russland eingereicht. Zu viel Unfug werde dort gezeigt! Der Film sei antirussisch und repräsentiere das Böse!

Nun, der Film „Durak“ war kurz in wenigen Kinos in Moskau zu sehen. In Tula, wo die Dreharbeiten stattfanden, wurde er nie gezeigt. Da es sich in diesen Filmen um die Gegebenheiten in den Provinzen dreht, weit weg von der Hauptstadt, und da sie internationalen Erfolg geniessen, wird ihre Aufführung von der staatlichen Macht toleriert, aber auf keinen Fall gutgeheissen.

Was den Regisseur mehr beunruhigt, ist die Tatsache, dass sein Zielpublikum – der Durchschnittsbürger - den Film nie zu Gesicht bekommen könnte, falls er am TV nicht ausgestrahlt werden darf („Isvestija“, 20.08.14). Der Kulturminister Medinskuj hat sich geäußert, dass dieser Streifen den Blick auf Russland verzerre und nur das Schlechte zeige. Die sowjetischen Politiker waren stets um den Schein und nicht um das Sein bemüht. Die heutigen Führer folgen der gleichen Logik (z.B. beim Sotschi-Spektakel). Nur die Wahrheit sickert meistens durch. Wie es im Inneren des Riesenreiches aussieht, zeigen Filmen wie „Durak“ und „Leviathan“ auf beeindruckende Weise.

Conclusion: „Durak“ bedient keine besonderen künstlerischen Ansprüche. Das war auch nicht Bykows Ziel. Sein Film bezeichnet er selbst als Plakat, Slogan, Schrei („Isvestija“, 20.08.14). „Durak“ (ebenso wie „Leviathan“) liefert Antworten auf die folgenden Fragen: Warum und wie verschwinden die russischen Journalisten, Oppositionelle und Rechtsaktivisten spurlos? Wie weit wird man gehen, um das alte System aufrecht zu erhalten? Was sind die Ursachen der Korruption? Wieso macht das Riesenvolk mit? Bewundernswert ist der Mut der Filmemacher. Sie sind Einige der Wenigen, die sich im heutigen Russland einen freien Blick auf das Geschehene leisten, ihre Kameras auf die gravierende Missstände richten, um souverän und konsequent die ganze entsetzliche Wahrheit aufzuzeigen. So viel Zivilcourage muss wenigstens mit unserer Aufmerksamkeit belohnt werden!

Genres
APOCALYPSE MOVIE, ARTHOUSE, BLACK HUMOR, Drama
Year Released
2015
Director
Writer
Duration
98 minutes
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